• Herbstliche Reise zu Bergen und Bären: Wanderer, kommst du in die Abruzzen…

    Etwa hundert Bären durchstreifen die Wälder des Abruzzen-Nationalparks. Beim Mittagessen lernen wir einen davon kennen: zwei Meter groß, drei Zentner schwer und sehr umgänglich. Sein Körper ist etwas unproportioniert. Ein Großteil seines Gewichts sammelt sich am Bauch und in den Pranken. Sein Name ist Gregorio Rotolo.

    Dieser Mann, der aussieht wie ein Bär, ist Schäfer, wenn wir ein romantisches Bild des ländlichen Lebens zeichnen wollen. Er selbst sieht sich als Agrarunternehmer, genau genommen betreibt er biologische Landwirtschaft. 1.600 Schafe und 40 Kühe verspeisen für ihn die leckeren Kräuter der Bergwiesen. Ihre Milch verzaubert er in allerlei Käse- und Ricottasorten. „Alle meine Käsesorten sind aus Rohmilch. Jeder Laib hat einen anderen Geschmack, je nachdem welche Kräuter das Vieh gefressen hat”, erklärt Gregorio Rotolo mit seinem weichen abruzzesischen Tonfall. Zusammenhänge, die wir sonst nur vom Wein her kennen.

    Vor wenigen Jahren haben die Touristen den abruzzesischen Apennin im italienischen Süden entdeckt, gerade zwei Stunden von Neapel oder Rom entfernt. Etwas Seltenes haben sie dort gefunden: die Natur. Ausgedehnte Buchenwälder, besiedelt von Wölfen, Luchsen und Bären. Ein Anblick wie man ihn in Kanada erwartet, während man in Europa nur schwerlich einen Berg findet, von dessen Gipfel nichts außer unendlichen Wäldern und felsigen Wiesen zu sehen ist, weder von Straßen noch Siedlungen unterbrochen. Die Biodiversität ist enorm: Die Hälfte aller italienischen Pflanzen finden sich auch in den Abruzzen.

    Eines der ganz wenigen Reiseunternehmen, das Wanderferien in der Bergwelt der Abruzzen organisiert, ist „Erde und Wind“ von Herbert Grabe. Seine Fahrten führen in die drei Nationalparks der Region. Doch die Natur der Parks ist nicht nur schönes Beiwerk: Herbert Grabe erklärt sie und spricht auch über die Probleme und Erfolge des Naturschutzes, von ihren Freunden und Feinden.

    Der große Feind der Natur in den Bergen ist der Skitourismus. Wälder werden gerodet und große Feriendörfer im pseudoalpinen Stil gebaut: ein irreparabler Schaden für das Ökosystem und eine Beleidigung fürs Auge. Wanderreisen dagegen sind nachhaltig und helfen, das unersetzliche Erbe zu bewahren. Herbert Grabe bringt es auf den Punkt: „Jeder Euro, den die Abruzzesen nicht im Skizirkus verdienen, schützt die Natur der Berge.”

    Spezialisierung Wanderreisen
    Wanderführer ist für Herbert Grabe eher Berufung denn Beruf. Schon in jungen Jahren bereiste er Italien von Südtirol bis Sizilien. 1986 überwältigte ihn die Wildheit der abruzzesischen Berge – ein Wendepunkt in seinem Leben. Damals war er Geschäftsführer des Bund Naturschutz Bildungswerk und organisierte Exkursionen ins Grüne. Logischerweise wählte er dann die Schutzgebiete in den Abruzzen als Ziel. Die Leidenschaft für diese Region und der Wunsch, ihre intakte Natur bekannter zu machen, um sie besser schützen zu können, brachte ihn dazu, ein Reiseunternehmen zu gründen, spezialisiert auf Wanderreisen in die Nationalparks der Abruzzen. Heute würde man sagen eine Ich-AG: Sekretär, Buchhalter, Wanderführer und Chef heißen alle Herbert Grabe. Dass er nicht selbst auch den Reisebus fährt, wundert.

    Bei Gruppenreisen steht vor der Reise die Gruppe. Herbert Grabe zieht ein besonderes Völkchen an: Ein Physiker, der sich eine Laute baut. Eine bayrische Biobäuerin. Die Inhaberin eines Teeladens, die die Mitreisenden beim Frühstück mit kleinen weißen Papiertütchen versorgt, dass die anderen Hotelgäste manches argwöhnen. Der Lebensmittelchemiker, der über Mozzarella und Ricotta referiert und abends zur Klampfe greift, um mit Herbert einen weinigen Abruzzen-Blues zu stampfen.

    Nach den Wanderungen mit mittlerem bis hohem Niveau locken typische Trattorien. Derb wie die Landschaft ist auch die Küche: grobe Wildschweinwurst, Innereien vom Lamm, das Ragout scheint das Ergebnis eines fatalen Zusammenstoßes zwischen Mähdrescher und Schaf. Daneben wachsen feinere Früchte: zarter, wilder Spinat – Orapi genannt – Ravioli mit Schafsricotta gefüllt, Gnocchi aus Kartoffeln mit einem Kräuterpesto, das die Artenvielfalt des Parks widerspiegelt – und im Frühherbst Trüffel ohne Ende.

    Das Märchen vom bösen Wolf
    Das gute Verhältnis der Bevölkerung zum Umweltschutz ist zu einem guten Teil Franco Tassis Verdienst. 33 Jahre lang streitbarer Chef des Nationalparks Abruzzen, inzwischen eine lebende Legende. Bei seinem Amtsantritt waren die Menschen in den Dörfern des Parks noch wenig von der Notwendigkeit des Naturschutzes überzeugt: Warum Wölfe schonen, wenn sie die Schafe fressen? Warum keine Skipisten bauen, wenn sie Geld bringen? Franco Tassis Geschick in der PR half enorm. So hat er an die wunderbare Begegnung des Heiligen Franz mit dem Wolf erinnert, statt das Märchen von Rotkäppchen zu erzählen. Fakten helfen gegen Gerüchte: Tatsächlich ist noch nie ein Mensch durch Wölfe zu Schaden gekommen. Schafe dagegen schon, weshalb Tassi für die Zucht der weißen, massigen Hütehunde der Abruzzen sorgte, die die Herden schützen.

    Fast 1.300 Gerichtsprozesse hat er geführt – und alle gewonnen. Er ist so integer wie konsequent: Wohl als Einziger in Italien, hat er ein Urteil gegen Schwarzbauten vollstrecken lassen, und zwar mit Bulldozern, die das illegale Feriendorf niederrissen. Morddrohungen folgten auf den Fuß, beirren ließ er sich nicht.

    Schließlich griff die lange Hand des Herren Berlusconi zu, und Tassi wurde im Jahre 2002 abgesetzt, ein Jahr vor seiner Pensionierung. Aber die Bevölkerung im Nationalpark hat die Ideen des Naturschutzes inzwischen verinnerlicht. Das Rad lässt sich nicht zurückdrehen.

    Ehrenbürgerwürde für Madonna
    Der Nationalpark Abruzzen, der älteste in Italien, ist auch Kulturland. Die harten Winter zwingen die Bevölkerung zum Heizen und damit zum Holzeinschlag. Die Landwirtschaft, vor allem die Tierzucht, ist neben dem aufkommenden Tourismus wichtiges Standbein der Wirtschaft. Im Nationalpark ist die kommerzielle Nutzung der natürlichen Ressourcen in bestimmten Grenzen erlaubt. Besonders gefördert werden extensive Schafszucht, seltene Nutztierrassen und biologische Landwirtschaft. Das sorgt für den Erhalt der Artenvielfalt.

    Seit dem 19. Jahrhundert verlassen jährlich unzählige Abruzzesen ihre Region, um in den großen Städten Italiens sowie in Deutschland oder Amerika ein besseres Leben zu finden. Früher war die Armut unvorstellbar, das Räubertum der letzte Ausweg. ”Chi non ruba, non ha roba“ – „Stiehlste nix, haste nix”, hieß es damals.

    Heute leben 1,28 Millionen in der Region, also 250.000 weniger als vor 25 Jahren. Doppelt so viele Menschen wie in Pescara, der größten Stadt der Abruzzen, wohnen, haben das Glück in der Ferne gesucht. Unter den Zahlreichen, die das Dorf Pacentro Richtung Amerika verließen, waren 1929 auch Michelina und Gaetano Ciccone. Ihre Enkelin Louisa Maria Ciccone ist inzwischen die bekannteste Abruzzesin; Beruf: Megastar; Künstlername: Madonna. Die Gemeinde Pacentro hat ihr die Ehrenbürgerwürde verliehen, aber bisher kam Madonna noch nicht vorbei, um die Auszeichnung anzunehmen.

    Ein anderer Auswanderer kam wieder zurück: Der Eremit Pietro Angelerio zog 1294 im Alter von mehr als 80 Jahren nach Rom um, da er überraschend zum Papst gewählt worden war. Als Heiliger Coelestin V. ging er in die Geschichte ein: Vom höchsten Amt überfordert tritt er als erster – und bisher einziger – Papst zurück. Stattdessen bevorzugte er seine Klause nahe Pacentro.

    „Adoptiere ein Schaf“
    Die Wissenschaft führte Dr. Manuela Cozzi zum ersten Mal in die Berge, als sie noch an der Uni in Florenz über Würz- und Heilkräuter forschte. Fasziniert von der intakten Natur tauschte sie die laute Stadt gegen das lauschige Anversa degli Abruzzi mit ganzen 300 Einwohnern. Zusammen mit ihrem Mann Nunzio Marcelli betreibt sie den Bioagriturismo „Porta dei Parchi“, das heißt ein biologischer Bauernhof mit Zimmerangebot, mit einer der größten Schafsherden der Abruzzen.

    Eine brillante Marketing-Idee macht sie weltweit bekannt: „Adoptiere ein Schaf, schütze die Umwelt!“ Wer 190 Euro pro Jahr investiert, wird Papa oder Mama eines Schafes. Er gibt ihm einen Namen und erhält neben Adoptionspapieren und einem Foto des neuen Lieblings das, was sein Schaf im Laufe des Jahres produziert: drei Kilogramm Käse, ein Kilogramm Ricotta, ein Paar Strümpfe (oder eine entsprechende Menge Wolle) und auch ein Lamm (wer will).

    Eine schöne Idee – ein enormer Erfolg: Die New York Times, BBC und CNN haben Manuela Cozzi interviewt und ihre Schäfchen gefilmt. Die findigen Schafszüchter konnten sich vor Anfragen aus aller Welt kaum retten: Amerikaner, Japaner und sogar Australier sind inzwischen unter den Schafseltern. 800 der wolligen Tiere sind schon adoptiert, 400 sind noch Waisen. Also schnell klicken: www.adottaunapecora.it

    Auf den Spuren von Pasta und Pecorino
    Wir halten inne auf dem Gipfel des Monte Marcolano. Halten inne, um das Land um uns herum zu schauen, frei von Spuren des Menschen, frei von Anzeichen der Zivilisation. Der Aufstieg auf 2.000 Meter macht in der sauberen Luft kaum Mühe. Wir reden kein Wort, um die Stille zu hören, die vom graziösen Gesang der Grillen gewürzt ist.

    Info:
    Wer sich selbst auf die Spuren von Bären und Wölfen, von Talschluchten und Bergwäldern, von alten Dörfern und Eremiteien, und auch von Brot und Wein, Pasta und Pecorino begeben will, der kann dies im Rahmen einer organisierten Wanderreise tun. Informationen dazu bei erde und wind, Donaustauf, Tel. (09403) 969254, Internet: www.erdeundwind.de

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