Warum die Proteste in Neapel nicht im Geringsten mit den Corona-Demos in Deutschland vergleichbar sind und weshalb Gewalt am Ende immer die falsche Lösung ist.
Nach unzähligen Schlagzeilen über Anti-Corona Demonstrationen und täglichen Berichten von sogenannten „Corona-Leugnern“ ist man versucht, die Artikel über gewaltsame Proteste in Neapel in eine ähnliche Schublade zu stecken und gewollt einfach darüber hinwegzulesen – nennen wir es einmal eine weitere Gruppe von Aufständischen, die den Ernst der Lage nicht verstanden zu haben scheint.
Doch sollte man in Fällen wie diesem einmal mehr genauer hinsehen, um zu verstehen, dass die Situation in einem der beliebtesten Urlaubsländer der Deutschen ganz und gar nicht mit letzterem in Einklang zu bringen ist. Der Ernst der Lage ist Neapels Bevölkerung mehr als bewusst. Was einige hunderte Protestanten daraus machen, soviel sei vorweggenommen, ist damit nicht zu entschuldigen und eine Entwicklung die niemandem hilft. Dass Italien einen gewaltigen Leidensweg in Sachen Corona zurücklegen musste, wissen wir alle. Die Bilder aus Norditalien, speziell aus Bergamo gingen um die Welt: Überfüllte Krankenhäuser, ausbleibende Kapazitäten für Intensivpatienten und überlastete Bestattungsunternehmen spiegelten das Ausmaß eines Horror-Szenarios wieder, welches Deutschland bislang glücklicherweise erspart geblieben ist. Die wenn auch späte Reaktion der italienischen Regierung im Frühjahr, ein landesweiter Shutdown mit verschärften Maßnahmen, galt schnell als Paradebeispiel unter den europäischen Staaten und wurde zeitweise (mit mehr oder weniger strenger Handhabe) auch in anderen Ländern erfolgreich umgesetzt.
Das Mitgefühl mit Italien zeigte sich in allen Bereichen des Alltags: In den sozialen Netzwerken kursierten Solidarisierungsbeiträge, die sich in Sachen Kreativität geradezu überboten und das Bild des Regenbogens mit den Worten „Andrà tutto bene“ ist noch heute an dem ein oder anderen Fenster, auch in Deutschland, zu sehen.
Nach Beendigung des Shutdowns schien man auf der italienischen Halbinsel die Lage halbwegs unter Kontrolle gebracht zu haben. Doch die zuletzt erhobenen Zahlen haben das Bild am Stiefel wieder grundlegend verändert. Italiens Norden, die Lombardei, ist zahlentechnisch wieder vorneweg, doch zeigen die neusten Ergebnisse auch rasante Anstiege u.a. im südlich gelegenen Kampanien. Vincenzo de Luca, Regionalpräsident der Region kündigte zu Beginn des vergangenen Wochenendes die Pläne für einen erneuten Shutdown an, welcher zwischen dreißig und vierzig Tage andauern soll. Nach anfänglicher Einführung einer Sperrstunde soll hier nun, vergleichbar zum Frühjahr, alles gänzlich auf Null heruntergefahren werden. Die daraus resultierenden, in der Nacht zum Samstag stattgefundenen Proteste in Neapel, der Hauptstadt Kampaniens, gehen durch die Medien. Dabei reicht die Berichterstattung von kleinen Mutmaßungen über die Täterschaft bis hin zu Pauschalisierungen. Parallelen zu Corona-Demos in Deutschland sind aus den Berichten ersichtlich. Die Presse trifft auf gewohntes Terrain. Neapel steht wieder einmal in einem negativen Licht. Doch ist dem wirklich so? Um das beurteilen zu können muss man die allgemeine Situation Kampaniens und seiner Hauptstadt einmal genauer unter die Lupe nehmen.
„Neapel sehen und dann sterben“. Dieser Satz stammt von einem unserer bedeutendsten deutschen Schriftsteller: Johann Wolfgang von Geothe. Er bringt diesen in seiner italienischen Reise an, um den unvergleichbaren Charakter der Stadt am gleichnamigen Golf zu preisen, welcher es einem Reisenden erst gestatten soll abzuleben, wenn er zuvor das schillernde Flair Neapels in seiner ganzen Pracht bestaunen konnte. Doch bringt man die Stadt am Vesuv heute eher mit pulsierender Kriminalität, Bergen von Abfall und der neapolitanischen Mafia in Verbindung. Zumindest zog es bis kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie jährlich tausende Touristen zur Geburtsstätte des beliebtesten „Fast-Foods“ der Deutschen, auch wenn ein neapolitanischer pizzaiolo beim Begriff Fast-Food vermutlich kurzer Hand in seinen Steinofen springen möchte.
Was dem Touristen meist verborgen bleibt sind die Zustände in den Außenbezirken der Stadt, sei es im (durch Serien wie Gomorrha bekannt gewordenen) Secondigliano oder auch in den ländlichen Gegenden rund um Neapel. Um sich dieser Umstände bewusst zu werden, muss man einmal die prozentualen Werte des Armutsrisikos im Vergleich betrachten: Gemäß der Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen der europäischen Union (EU-SILC) waren bei Erhebung 2017 europaweit 16,9 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet, sprich jeder sechste. Während Deutschland leicht unter diesem Durchschnitt lag, schaffte es Italien mit 20,3 Prozent bereits in die oberen Plätze. Was aus dieser Zahl jedoch noch nicht hervorgeht ist der klaffende Unterschied zwischen Italiens industriegeprägtem Norden und dem eher ländlichen Süden.
Gemäß dem Statistikamt Eurostat lag Kampaniens Armutsgefährdung 2017 bereits bei 34 Prozent, während heute bereits über 40 Prozent der Einwohner von akuter Armut bedroht sind. Die hier betroffenen Einwohner beziehen damit weniger als sechzig Prozent des gesamtstaatlichen Durchschnittseinkommens. Damit liegt Kampanien, nicht nur an Italiens Armutsspitzenposition, sondern gar an der ersten Stelle innerhalb der EU. Die Corona Krise hat daran nichts geändert, im Gegenteil. Schon während des Shutdowns kam es zu Plünderungen und in dessen Folge Polizeipatrouillen vor den Supermärkten. Durch Geschäftsschließungen und ausbleibende Touristen im Frühjahr nimmt die Armut weiter zu. Ein Großteil der ärmsten Bewohner Kampaniens müssen schwarz arbeiten, da eine ordentliche Anstellung ihnen verwehrt bleibt, dazu kommen noch die Saisonarbeiter. Durch den Shutdown im Frühjahr verloren beide Gruppen nicht nur ihr tägliches Einkommen, auch hatten sie keinerlei Anspruch auf eine staatliche Entschädigung, auf die einige der registrierten Arbeitnehmer übrigens aus bürokratischen Gründen noch bis heute warten müssen. Zahlreiche Unternehmen mussten schließen. Nutznießer dieser hoffnungslosen Lage sind kriminelle Organisationen wie die Camorra, die Geld an in Not geratene Unternehmer verleiht, insolvente Unternehmen zu Geldwäschezwecken übernimmt und ihren Nachwuchs aus den ärmsten Vierteln der Städte rekrutiert. All das spitzte sich in den letzten Monaten vermehrt zu. Lösungen durch die Regierung bleiben aus. Ein beschlossenes Noteinkommen für Haushalte unter einer festgesetzten Einkommensgrenze liegt zwischen 400 und 800 Euro, je nach Familiengröße. Ausgeschlossen sind Haushalte, die bereits ein Bürgereinkommen oder eine Corona-Beihilfe seitens Staat empfangen, ebenso Haushalte mit mindestens einem Rentenbezug. Damit fällt bereits ein Großteil der betroffenen Haushalte aus dem Raster. Der Rest, der in der glücklichen Lage ist das Noteinkommen zu empfangen, ist verpflichtet dieses wieder zurückzuzahlen, bei Verstoß drohen Strafen. Legt man diese Entwicklung zu Grunde, scheint die Ankündigung eines weiteren Shutdowns in einer Region wie Kampanien einer Katastrophe gleich zu kommen. Die Reaktionsschnelligkeit der Regierung in Anbetracht des Virus, während die Armut der Bevölkerung in breiten Runden mit ausbleibendem Erfolg langwierig diskutiert wird, erscheint widersprüchlich.
Das “hässliche Gesicht Neapels”
De Lucas Worte über den Ernst der Lage und die Gleichheit der Menschen, die das Leben Ihrer Familien verteidigen sollen, klingen wie der blanke Hohn. Die Angst und auch die Wut der Bevölkerung sind mehr als nachvollziehbar. Doch zeigt sich auch hier wieder, dass gewaltsame Proteste niemandem helfen, im Gegenteil sogar einen gegenteiligen Effekt erzielen. Italiens Presse schreibt über das „hässliche Gesicht Neapels“, das alte Klischee des Schandfleck Italiens ist von Neuem genährt, während die Bekämpfung von rechten Gruppen und die Sicherung der Innenstädte Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung von der politischen Agenda verdrängen. All das führt letzten Endes dazu, dass die Bedürfnisse der armen Bevölkerung Kampaniens abermals im Hintergrund verschwinden. Einige wenige Hunderte werfen wieder einmal einen Schatten über den Golf. Dabei kann Italiens Süden, ja kann Neapel viel mehr.
Beispiele gibt es zu genüge: Öffentlich zugängliche Gemeinschaftskörbe in den Städten werden von Passanten mit Nahrungsmitteln gefüllt, Bedürftige bedienen sich an diesen. Die Älteren unter den Einwohnern befestigen ihre Körbe an Seilen und hängen diese aus dem Fenster. Bereitwillig werden Einkäufe darin platziert um auch die Versorgung der Ältesten zu garantieren. Oder haben Sie schon einmal vom „Caffè sospeso“ gehört? Neapolitaner trinken einen Espresso, bezahlen aber zwei, um auch demjenigen einen Espresso zu ermöglichen, der ihn sich nicht leisten kann. Die Kreativität in Sachen Nächstenliebe und gegenseitiger Unterstützung am Fuße des Vesuv kennt keine Grenzen und das bereits Jahre vor Corona.
Das spiegelt sich auch bei einem Großteil der Menschen wieder: Hier wo das Chaos dominiert, wo man jeden Tag aufs Neue um die Grundbedürfnisse kämpfen muss, hier wo man trotz alledem zusammen hält, das Leben irgendwie meistert und bei San Gennaro um den Beistand für die (für jeden Neapolitaner) schönste Stadt der Welt erbittet. Hier ist man trotz alledem wahnsinnig stolz darauf, Teil dieser Kultur mit all ihren Facetten zu sein, während manch anderer vermutlich längst das Weite gesucht hätte. Das ist Neapel, das ist Kampanien. Das sind Werte, auf denen aufgebaut werden muss. Dieses Potential, die Verbundenheit der breiten Masse sollte einvernehmlich genutzt werden, um die Politik, auch auf europäischer Ebene, auf die Missstände in Italiens Süden aufmerksam zu machen und deren Nutznießer langfristig zu bekämpfen.
Proteste ja, aber keine Gewalt. Gemeinsam, sinnvoll an einem Strang zu ziehen bringt so viel mehr als die Aggression einiger weniger. Nur so kann Kampanien in eine bessere Zukunft blicken. Und wer weiß? Vielleicht wird dann auch eines Tages am Golf von Neapel des Bürgers größte Angst das Ausbleiben des Klopapiers sein.